Kritisches Denken und Systemdenken sind zwei Gedankenströmungen, die für die neue Zeit des automobilen Umbruchs unerlässlich sind. Diesen guten Ideen müssen noch Taten folgen.
Mein Vater pflegte zu sagen: „Das Denken hat eine kolossale Zukunft“. Nun ist es nicht nur wichtig, was man denkt, sondern auch wie man denkt. Zum Beispiel sollte man kritisch denken (können) – so heißt es zumindest gelegentlich. Kritisches Denken – das hört sich gut an. Vermutlich wenige von uns würden den Gedanken verwerfen, dass kritisches Denken für das persönliche und berufliche Fortkommen wichtig ist. Es ist eins von diesen Konzepten, bei denen man automatisch zustimmt: Das ist eine gute Sache.
Kritisches Denken ist ein Denkansatz, bei dem die Analyse von Fakten, Beweisen und Argumenten kombiniert werden, um sich durch rationale, skeptische und unvoreingenommene Bewertung ein Urteil zu bilden. Unabhängig und autonom zu denken ist dabei von kardinaler Wichtigkeit. Ein kritischer Denker muss unvoreingenommen, neugierig und systematisch vorgehen, Fakten und Gegenfakten prüfen und nicht einfach dem mentalen Herdentrieb folgen. Es ist nämlich einfacher und effizienter, ohne zu hinterfragen zu akzeptieren, dass die Dinge „nun mal so sind wie sie sind“. Anders formuliert: kritisches Denken ist anstrengend, aber lohnenswert.
Beispiel für kritisches Denken aus der Praxis: Ein Team in einem ADAS-Projekt, in dem eine Komponente für ein Fahrassistenzsystem entwickelt werden sollte, wollte nun entscheiden, ob die Entwicklung nach SCRUM oder konventionell erfolgen sollte. Der kundenseitige Projektmanager diskutierte mit dem Projektteam verschiedene Varianten und Optionen. Das Team hatte noch nie SCRUM angewendet. Andererseits war die Erfolgsrate vergangener Projekte, die konventionell umgesetzt wurden, nicht ermutigend. Ein vermeintlicher Vorteil des SCRUM-Ansatzes war die allgemeine Ansicht, dass „man heutzutage SCRUM anwenden sollte“. Andererseits stand bereits vertraglich fest, dass das Projekt Automotive SPICE (Level 2), sowie gemäß der funktionalen Sicherheitseinstufung ASIL-B konform sein muss, jedoch auch darin hatte das Team wenig Erfahrung. Nach einer längeren Überlegung entschied man sich, das Projekt konventionell umzusetzen, jedoch für künftige Projekte parallel einen anderen, hybriden Ansatz zu implementieren.
Bei dieser Entscheidung wurden mehrere Aspekte des kritischen Denkens angewendet. Zum einen wurden subjektive Ansichten ausgefiltert. Auch auf die Gefahr hin, dass das Team enttäuscht und vielleicht sogar demotiviert wird, entschied man sich dafür, lieber ein bekanntes, wenn auch nicht unproblematisches Risiko einzugehen, denn das Risiko, inmitten eines Projekts eine agile Transformation zu wagen, wurde als unberechenbar eingestuft.
Kritisches Denken ist ein wichtiger Baustein im Puzzle einer Organisation, jedoch genügt dieser Ansatz nicht, um eine ganzheitliche Perspektive auf das gesamte Unternehmen zu geben. Systemdenken ist dafür ein geeigneter Ansatz. Es ist eine Methode, die Welt als Ganzes und zugleich als eine Menge von innerlich miteinander verbundenen Aspekten zu sehen, um dadurch das Ganze besser zu verstehen. Systemdenken hilft, Lösungen für komplexe Szenarien und Zusammenhänge zu ergründen, damit zu komplexen Fragestellungen eine effektivere Lösung gefunden werden kann. Eine gelegentlich beiläufig geäußerte Floskel wie „man muss das Ganze sehen“ ist ein Ausdruck der Sehnsucht nach einem tief verstandenen Systemdenken.
Systemdenken ist ein strukturierter, iterativer Denkansatz. Diese iterativen Schritte könnte man wie folgt formulieren:
- Geltungsbereich festlegen (z. B. das ganze Unternehmen, Abteilung, Projekt, Team, etc.)
- Die Bestandteile des Systems (z. B. bestimmte Teams, Projektrollen und Unternehmensfunktionen, Umwelteinflüsse, Gesetze, Qualitätssysteme, Verzahnung von Standards (wie funktionale Sicherheit, ASPICE und Cyber Security), Prozesse für Straßenfreigaben, Marketingaktivitäten, Produktionseinrichtungen, etc.)
- Verständnis der Zwischenwirkungen auf allen Ebenen des Unternehmens (z. B. welche Meilensteine müssen erreicht werden, damit Straßenfreigaben erteilt werden können, etc.)
- Auswirkungsanalyse: was ist bzw. wäre eine Auswirkung von Veränderungen? Besonders interessant ist es in diesem Zusammenhang, potenzielle Veränderungen zu identifizieren, welche die größte Auswirkung hätten.
Ein Beispiel aus der Praxis: In einem großen Mobilfunkunternehmen mussten aufgrund einer neuen gesetzlichen Vorgabe Nummern von einem Netz ins andere portiert werden können (auch bekannt als „Rufnummernmitnahme“). Kenner der Branche werden sofort erkennen, dass das gesamte Unternehmen betroffen war, inklusive Systementwicklung, Vertrieb, Marketing, Billing, Callcenter, Buchhaltung, Logistik, etc. Eine besondere Herausforderung war dabei, dass die sogenannten „Partnersysteme“ zeitgleich aktualisiert werden mussten. Eine Analyse dieser Mammutaufgabe ergab, dass Hunderte von Anforderungsdokumenten verändert werden mussten, damit die Entwickler alle Partnersysteme anpassen können. Die übliche Vorgehensweise war, die Anforderungsdokumente zu verteilen und zu hoffen, dass die gesamte Systemlandschaft nach dem Mega-Update korrekt funktioniert. Die Gefahr war akut, dass kritische Fehler übersehen werden.
Der Verantwortliche hatte die Idee, statt alle Partnersysteme mit den neuen Anforderungsdokumenten allein zu lassen und das Beste zu hoffen, eine „End-zu-End“-Feature-Verantwortliche zu benennen, welche die Prozessstrecke vom ersten bis zum letzten Schritt bis zur Freigabe der Systeme ganzheitlich begleiten sollte. Dies war eine kleine Änderung im unternehmensweiten Entwicklungsprozess, jedoch wurde die Initiative durch den vollen Erfolg belohnt. Die Rolle von Feature-Ownern wurde danach als Standardvorgehensweise etabliert.
Das Systemdenken war daran zu erkennen, dass die umfangreiche Änderung nicht einfach „nach dem Schema F“ angegangen wurde, sondern durch eine systematische Analyse aller Bestandteile und mit einer gesunden Einschätzung der einhergehenden Risiken vonstattenging.
Besonders wirkungsvoll ist eine Verbindung der beiden Ansätze. Systemdenken und kritisches Denken sind naturgemäß eng miteinander verbunden. Zum Beispiel eignet sich das kritische Denken gut dafür, Problemstellungen zu analysieren und zu hinterfragen, und dabei auf mögliche Chancen und Risiken hin zu überprüfen. Dieser Ansatz ist auch als „Critical Systems Thinking“ bekannt.
Es lohnt sich, diese beiden Ansätze noch weiter zu vertiefen. Es geht nämlich nicht nur darum, das Systemdenken kritisch anzuwenden, sondern auch die Auswirkungen der beiden Ansätze hinsichtlich der systematischen Umsetzbarkeit im Bereich des „Projektmanagement-Dreiecks“ zu beleuchten. Dabei geht es darum, gefundene Lösungsansätze hinsichtlich Zeitvorgaben, der Lösungsqualität und des Aufwands zu betrachten, sowie die Teamdynamik zu beachten, sodass eine effektive Lösung umgesetzt werden kann. „Critical System Thinking“ wird somit zu „Effective Critical Systems Thinking (ECST)“
Die Idee rührt aus der Automobilbranche her, die zurzeit disruptive Veränderungen durch die Elektrifizierung und autonomes Fahren erlebt. Es ist ein neues „Mind Set“ erforderlich, um diese neuen Paradigmen zu bewältigen.
Das ECST-Prinzip erweitert den CST-Ansatz um die folgenden Aspekte:
- Systematische Risikominimierung: statt Risiken zu managen, wird eine aktive Reduktion von Risiken angeregt.
- De-Programmierung des Teams: Dabei handelt es sich um eine aktive Beschützung des Teams vor ablenkenden Störeinflüssen durch Hypes und Management-Moden.
- Langzeitplanung: Im Unterschied zum agilen Ansatz wird im ECST-Ansatz eine langfristige Planung angeregt. Dabei wird die Planung kritisch hinterfragt und stets angepasst.
- Respekt für Softwarekomplexität: im Automobilgeschäft grassieren Misstrauen und Skepsis bezüglich der wachsenden Rolle von Software bei der Fahrzeugentwicklung. Diese Skepsis muss aktiv angegangen werden, damit Software-Talente im Automobilgeschäft nicht abwandern.
- Disruptives Denken fördern: im Automobilgeschäft ist nichts, wie es war – so scheint’s. Elon Musks „Giga Casting“ – eine Idee, Fahrzeuge aus einem Guss zu fertigen und dadurch erhebliche Einsparungen zu erzielen – ist ein Paradebeispiel des disruptiven Denkens.
- Berücksichtigung von Aufwand, Qualität und der zeitlichen Komponente: gute Ideen gibt es viele, jedoch stellt ihre Durchführung den eigentlichen Knackpunkt dar.
- Sinnhaftigkeit: Geld motiviert nur bedingt. Wirklich erfolgreiche Teams arbeiten nicht für das schnöde Geld; sie arbeiten, weil sie die vorliegende Aufgabe leidenschaftlich verfolgen.
- Kontinuierliches Lernen und Anpassungsfähigkeit: Neugier und Lernen müssen aktiv gefördert werden.
ECST – effektives, kritisches Systemdenken – stellt eine progressive, erweiterte Denkweise dar, die speziell in der komplexen Welt der Automobilindustrie, die sich in einem erstaunlichen Umbruch befindet, vielversprechend ist.
ECST lässt sich schulen und trainieren. Sowohl Führungskräfte als auch Ingenieure können dadurch eine höhere Effektivitätsebene erreichen. Es ist nie zu spät dafür, denn die verbreitete Meinung, man könne alten Hunden keine neuen Tricks beibringen, hält dem im ESCT enthaltenen kritischen Denkansatz nicht stand. ECST fördert kontinuierliches Lernen, daher ist ECST eine universelle, zeitloser Strategie, die auf allen Unternehmensebenen anwendbar ist.
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