Customer Assessment

Immer wieder wird die Prozessqualität der Automobilzulieferer von ihren Kunden in allen Details überprüft. Eine Prüfung der Kunden durch ihre Zulieferer erscheint dagegen unmöglich, obwohl sie für beide Seiten von Vorteil wäre.

Im typischen Lieferanten-Assessment nach Automotive SPICE bewerten Kunden (im Jargon bekannt als „OEM“) den Reifegrad der Entwicklungsprozesse bei ihren Lieferanten. In der Theorie möchte der Bewertende wissen, wie professionell der Lieferant seine Systementwicklung betreibt, damit die Erfüllung von Qualitätsvorgaben bereits im Vorfeld der Entwicklung sichergestellt werden kann. Da ein bestimmter Reifegrad in OEM-Vertragsvorlagen standardmäßig vorgegeben wird, sind diese Assessments eine Kernvoraussetzung dafür, den Status des OEM-Lieferanten zu erhalten. Dieser Status stellt wiederum eine Grundbedingung für alle künftigen Beauftragungen dar. Es geht also um sehr viel Geld, für kleinere Lieferanten sogar um ihr schieres Überleben.

Doch was in der Theorie sinnvoll klingt, schafft in der Praxis vielfältige Probleme. Es ist natürlich vollkommen legitim, dass die OEMs für ihr teures Geld die bestmögliche Qualität erwarten. Was allerdings oft in Vergessenheit gerät, ist der Umstand, dass Qualität und ihre Kontrolle keine einseitige Verpflichtung eines Vertragspartners sein dürfen. Ein Kunde, der sich auf dem Reifegrad Eins befindet, kann kaum einen Lieferanten effektiv steuern, der die Reife Drei oder sogar höher aufweist.

In zahlreichen Gesprächen mit Zulieferern erfahre ich aber immer wieder, dass maximale Prozesskonformität von manchen OEMs zwar im Assessment erwartet, auf der Arbeitsebene jedoch offenbar eher als Hindernis ausgelegt wird. Zum Beispiel ist es in jedem „ordentlichen“ Entwicklungsprozess Standard, im Laufe der Entwicklung die für die anstehende Lieferung festgelegten Anforderungen frühzeitig einzufrieren, sprich: sie anschließend nicht mehr zu verändern. Dies hat einen guten Grund, denn veränderte Anforderungen ziehen eine Menge aufwendiger Prozessschritte nach sich, wie etwa Auswirkungsanalyse, Kostenanalyse, Designanpassungen, Testaufwände, Qualitätssicherung und Audits, Anpassung technischer Dokumentation auf verschiedenen Ebenen, Sicherung der Vollständigkeit von Arbeitsergebnissen, inhaltliche Reviews etc.

Was aber im Assessment unter Androhung der Streichung von der Lieferantenliste verlangt wird, ignorieren im Projektalltag nicht selten beide Vertragspartner. Zum Beispiel erwarten OEMs wie selbstverständlich, dass späte Änderungen ungeachtet des im Prozess vorgeschriebenen Vorlaufs bitte „mal eben“ implementiert werden. Weigert sich der Projektmanager des Lieferanten dies zu tun, folgen diverse für ihn unangenehme Runden mit seinem Linienmanagement, an deren Ende er schließlich nachgeben, alle Regeln brechen und den Kundenwunsch umgehend erfüllen muss.

Dieser Missstand scheint an unterschiedlichen Zielvorgaben der Beteiligten zu liegen. QA-Manager erwarten kompromisslose Qualität, während ihre Kollegen in der Entwicklungsabteilung eher dazu neigen, Termin- und Budgettreue höher zu priorisieren. Diese Widersprüchlichkeit ist auf beiden Seiten des Vertrags zu beobachten.

Zugleich ist jedoch das Vertragsverhältnis von Natur aus alles andere als symmetrisch und fair. OEMs genießen gegenüber ihrer Zuliefererschar eine besondere Marktstellung. Auf der Arbeitsebene entsteht der Eindruck, dass OEMs von ihren Lieferanten extrem hohe Standards verlangen, die sie selber offenbar nicht einhalten können oder wollen. Derartige Vorurteile, berechtigt oder nicht, können das Kunden-Lieferanten-Verhältnis nachhaltig schädigen.

Dieses Vorgehen, wenn es denn tatsächlich zutrifft, bringt nicht nur einem Lieferanten, sondern auch seinem Kunden eine Reihe von Nachteilen. Es gefährdet fundamentale Dimensionen eines Projekts wie Termintreue, Früherkennung von Risiken sowie Innovationskraft des Lieferanten während der Produktentwicklung. Übergreifende Qualitätssicherung bleibt ein Wunschdenken, denn die gemeinsame Qualitätskontrolle hört an den Unternehmensgrenzen auf. Nicht nur sein Kunde, sondern auch der Lieferant muss ja wissen, mit welcher Organisationsreife er auf der OEM-Seite zu tun hat. Es genügt nicht, wenn OEMs einseitig postulieren, dass die „OEM-Prozesse stimmen“. Bei der Größe der OEM-Organisationen kann es nämlich zu enormen Unterschieden in der Prozessreife zwischen einzelnen Programmen und Abteilungen kommen. Sie reichen von „chaotisch“ bis „übernatürlich“.

Doch während die OEM-QA das anvisierte Lieferantenprojekt auf Herz und Nieren überprüfen, bleiben die Lieferanten über potenzielle Risiken auf Seiten der OEMs im Unklaren. Besonders bedenklich sind Prozessbrüche, die durch ungleiche Prozessreife bei den Vertragspartnern auftreten können. Die Symptome schlecht abgestimmter, unterschiedlich reifer, übergreifender (Teil-)Prozesse reichen von unerkannten Verständnisdifferenzen hinsichtlich der einzusetzenden Technologie über chaotische und unprofessionelle Handhabung später Anforderungsveränderungen bis hin zu teuren Rückrufaktionen und Gefahr für Leib und Leben für OEM-Endkunden.

Wie ist dieser Missstand zu beheben?

Ein ausgewogenes Vertragsverhältnis, basierend auf der „goldenen Regel“, wäre sicherlich ein vielversprechender Ansatz. Wenn der Kunde den Lieferanten hinsichtlich seiner Prozessqualität bewertet, so sollte der Lieferant ebenfalls den Kunden bewerten dürfen. Im Kunden-Assessment durch einen Lieferantenauditor könnten OEMs wertvolle Verbesserungsvorschläge und Effizienzsteigerungspotenziale erfahren. Besonders konstruktiv wären dann die Erkenntnisse über Reifeunterschiede zwischen den Partnerorganisationen, die durch verschiedene Maßnahmen proaktiv überbrückt werden könnten. Darüber hinaus wären eine angemessene Augenhöhe und ein kooperativer Arbeitsmodus hergestellt, denn der Lieferant hätte nicht den Eindruck, dem übermächtigen Kunden hilflos ausgeliefert zu sein, und der OEM würde Potenziale für Konflikte und böse Überraschungen reduzieren.

Früherkennung von Risiken, Effizienzsteigerung durch Behebung von Prozessbrüchen entlang der Lieferkette, Optimierung der Anforderungsabstimmung und Identifizierung sowie Einführung von Effizienzsteigerungsmaßnahmen sind Aufgaben, die nur unzureichend einseitig übernommen werden können. Wenn die Fertigungspyramide besser integriert werden soll, dann kann dies nicht nur von oben herab passieren. Neben dem Lieferanten-Assessment wäre ein OEM-Assessment ein ideales Werkzeug für diesen Zweck.

Nun könnte der Einwand erhoben werden, dass OEMs durch die potenziell hohe Anzahl von Assessments unnötig behindert würden. Das ist nicht unberechtigt; wenn jeder auch noch so kleine Lieferant ein OEM-Assessment durchführen wollte, dann wäre der resultierende Aufwand enorm. Das ist in der Tat abzulehnen. Sinnvoll wäre dagegen ein Assessmentteam, das von einem Lieferanten-Zusammenschluss bestallt und bezahlt wird. Die Ergebnisse würden unter strengen Auflagen aufbewahrt und nur den jeweiligen Vertragspartnern (OEM/Lieferant) im Laufe der Vertragsverhandlungen zur Verfügung gestellt.

Des Weiteren könnte man einwenden, dass ein unabhängiger Assessor eine noch einfachere Lösung wäre: günstiger, flexibler und oft ohnehin eingesetzt. Gegen diesen Ansatz sprechen allerdings zumindest drei Umstände: erstens, der Fairness wegen müsste auch der OEM seine Lieferantenbewertungen an einen unabhängigen Assessor abgeben, anstatt sie selbst durchzuführen, worauf sich die OEMs erfahrungsgemäß ungern einlassen. Zweitens, „Unabhängigkeit“ ist ein fragiles Gut und schwer ohne weitere Kontrollen zu gewährleisten. Die zahlreichen CMMI-Level-5-Bewertungen im asiatischen Wirtschaftsraum lassen vermuten, dass es um die Objektivität angeblich unabhängiger Assessoren manchmal nicht allzu gut bestellt ist. Drittens zeigt die Assessment-Praxis, dass sowohl CMMI- als auch Automotive-SPICE-Assessmentergebnisse von Assessor zu Assessor sehr stark variieren können.

Ein OEM-Assessment, zu Neudeutsch „Customer Assessment”, hätte als integraler Bestandteil der Kunden-Lieferanten-Beziehung positive Auswirkungen auf die einzelnen Projekte und die gesamte Automotive-Industrie. Eine Fülle von Vorteilen wäre zu erwarten:

  • Herstellung eines gemeinsamen Verständnisses für den übergreifenden Entwicklungsprozess
  • Frühzeitige Überbrückung von Kommunikationsengpässen (Anforderungen und Entwurf)
  • Risiko-Früherkennung auf der Prozessebene (Ausgleich für fehlende Prozessschritte, Methodik-Abgleich, Interpretation von Safety-Anforderungen, Abgleich von Tool-Schnittstellen etc.)
  • Bessere Integration der Lieferantenkette hinsichtlich Planbarkeit, Qualitätssicherung und Risikominimierung auf allen Ebenen
  • Höhere Effizienz und Agilität bei Gestaltung komplexer Systeme durch einen bilateralen Abgleich von Validierungsmaßnahmen (komplexe Algorithmen/Heuristiken, innovative Werkstoffe, Sensorik sowie bessere Abstimmung von Architekturentscheidungen auf allen Systemebenen auf Basis von Validierungsergebnissen)
  • Intensivierung der Kooperation durch eine faire Vertragsbeziehung

Bei so vielen positiven Auswirkungen kann ich mir wenige Nachteile vorstellen. Customer Assessments wären eine friedliche Revolution, die einen großen Schritt nach vorn bedeuten würde. Es hört sich beinahe zu gut an, um wahr zu werden.

Ein Ding der Unmöglichkeit? Der Fortschritt besteht aus Visionen, die oft ungeachtet ihrer angeblichen Absurdität verwirklicht wurden. Wenn OEMs in Customer Assessments ihren Vorteil erkennen, dann können diese schneller als erträumt Wirklichkeit werden.

Roman Mildner
Über Roman Mildner 79 Artikel
Ich bin zertifizierter Projektmanager (PMP), Managementberater und Buchautor. Seit 1992 bin ich in der IT-Branche und seit 1998 als Managementberater tätig. Zu meinen Arbeitsschwerpunkten gehören Technologiestrategie und Prozessverbesserung, insbesondere im Bereich von Automotive SPICE. Weitere Details finden Sie hier.

2 Kommentare

    • Ich glaube fest daran, dass das Ergebnis für alle Beteiligten einen einzigartigen Mehrwert darstellen würde. Denn ein “Disconnect” zwischen der QA und den Entwicklungsteams ist kein Phänomen, das nur bei Zulieferern auftritt. Die daraus resultierende “good guy, bad guy”-Taktik ist vielleicht dialektisch geschickt, betriebswirtschaftlich jedoch in vielerlei Hinsicht hinderlich.

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