„Der Ehrliche ist der Dumme“ – eine zynische oder bloß realistische Erkenntnis? Im Projektgeschäft wohl beides. Diese Einsicht kann für die Projektparteien ein Befreiungsschlag sein.
„Der Ehrliche ist der Dumme“, so nannte Ulrich Wickert einst sein wohlbekanntes Buch. Darin geht es hauptsächlich um Ehrlichkeit im sozialstaatlichen Alltag. Kann man überhaupt zugleich ehrlich und erfolgreich sein? Im Projektalltag ist das Dilemma besonders virulent. Denn das typische Szenario bei der IT-Projektakquise präsentiert sich in etwa so: Der Kunde schreibt ein Projekt aus, einer der bietenden Lieferanten gewinnt dank seines unschlagbar niedrigen Preises. Das Projekt gerät aber bald in Schwierigkeiten und schlimmstenfalls wird es komplett abgesagt. Üblicherweise werden dann Stimmen laut, alles sei von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. „Es war doch gleich klar, dass man für diesen Preis nicht liefern kann“, heißt es dann.
Warum bildet ein derartiger Ablauf eher die Norm als eine Ausnahme?
Man versetze sich am besten in die Position des Einkaufsmanagers, der eine Ausschreibung durchzuführen hat. Zum einen hat er natürlich die Vorgabe, möglichst günstig einzukaufen. Aber was soll er seinen Chefs sagen, wenn der Preis unrealistisch niedrig erscheint? In der Regel ist es praktisch unmöglich, eine rationale Begründung für eine solche Einschätzung abzugeben. Zudem widerspricht eine solche Ansicht dem Kostenersparnisziel. Das persönliche Einkommen des Einkaufsmanagers ist nicht selten direkt oder indirekt an diese Zielsetzung gekoppelt. Er hat kaum Spielraum, den niedrigen Preis zu hinterfragen. Projektlieferanten sehen sich in dieser Situation genötigt, einen grenzwertig niedrigen Preis für ihre Dienstleistungen anzubieten. Denn wer ehrlich bleibt, ist unter solchen Umständen bald aus dem Rennen. Und so nimmt die Katastrophe ihren Lauf, immer wieder aufs Neue.
Für das Scheitern von Projekten sind viele Gründe verantwortlich, aber das notorisch unrealistische Preis-Leistungs-Verhältnis bleibt darunter stets ein Spitzenreiter.
Die Gründe für das Scheitern von Projekten wurden in der einschlägigen Literatur bereits zur Genüge durchgekaut. Die Ursachen aufzuzählen und ihre Beseitigung zu fordern ändert aber wenig, wenn die Umstände, die diese Ursachen herbeiführen, weiterhin bestehen bleiben.
Die Interessenkonflikte der Projektparteien sind derart natürlichen Ursprungs, dass es töricht wäre zu erwarten, sie könnten sich in absehbarer Zeit ändern. Derartige Vorstellungen sind lebensfern. Ein Lieferant darf nicht darauf warten, dass die Verhandlungspartner im Vorfeld eines teuren Projekts endlich aufhören sich etwas vorzumachen. Er muss verkaufen.
Die theoretische Erwartungshaltung geht natürlich davon aus, dass das überaus günstig angebotene Projekt nach dem erteilten Zuschlag ordnungsgemäß getreu den Vorgaben abgewickelt wird. Man kann in CMMI, Automotive SPICE, PMBOK, Prince2 und diversen anderen Standards viel darüber lernen, wie ein ordentliches Projektmanagement auszusehen hat. Doch diese überaus sinnvollen Qualitätssysteme sind in der Praxis leider überraschend wenig hilfreich. Qualität hat eben ihren (hohen) Preis.
In der Praxis verfolgen clevere und erfolgreiche Projektanbieter daher den „Realistischen Projektlebenszyklus“:
Die Prozessschritte im Einzelnen:
Prolog: Angebot und Zuschlag – in dieser Anfangsphase gilt es, ein preislich so attraktives Angebot zu konstruieren, dass der Einkäufer es nicht ablehnen kann. Die große Kunst hierbei liegt darin, ein Preis-Leistungs-Verhältnis aufzubieten, das alle anderen Mitbewerber unterbietet und trotzdem glaubwürdig erscheint. Die Glaubwürdigkeit kann durch verschiedene Kunstgriffe hergestellt werden, z. B. mit dem Hinweis „Wir machen nur das Konzept, den Rest machen unsere günstigen Kollegen aus Indien“, oder à la „Wir setzen ein bereits fertiges Framework XYZ ein“. Diese Anfangsphase endet, wenn der Projektvertrag unterschrieben wurde.
Phase 1: Flitterwochen – diese Phase verläuft in der Regel friedlich, geordnet und ruhig. Es herrscht einvernehmliche Zufriedenheit. Der vereinbarte Projektumfang wird zunächst genauso realisiert wie im Vertrag vereinbart. Diese Zeit muss der Lieferant nutzen, um eine gute, persönliche Beziehung zum Kunden aufzubauen. Die Qualität dieser Beziehung ist der wichtigste Erfolgsfaktor für das gesamte Projekt, denn sie wird bald auf eine harte Probe gestellt.
Phase 2: Mängelverwaltung – jetzt geht’s ans Eingemachte. Es wird für jeden Beteiligten offensichtlich, was bisher oft nur dem Lieferanten klar war: Das Projekt befindet sich außerhalb des magischen Dreiecks von Zeitvorgaben-Preis-Lieferumfang. Meilensteine werden verschoben, Abnahmen verweigert, Mängel dokumentiert. Der Lieferant möchte diese Phase möglichst hinauszögern, denn je länger sie dauert, umso besser für ihn; denn hier wird nach dem Prinzip „Wir sitzen im selben Boot“ der Grundstein für eine einvernehmliche Vereinbarung eines veränderten Preis-Leistungs-Verhältnisses gelegt. Außerdem hat auch der Kunde in der Regel für das Projekt interne Zeitvorgaben, die um jeden Preis eingehalten werden müssen, und steht damit unter steigendem Druck, eine Einigung zu erreichen.
Phase 3: Eskalation – das Projekt steht auf der Kippe. Alle Für-und-wider-Argumente kommen auf den Tisch. Nun gilt es, die Nerven zu behalten. Die Verkaufsrhetorik ist nun entscheidend. Wenn der Lieferant keinen falschen Stolz an den Tag legt, kann hier eine richtig konstruktive Kunden-Lieferanten-Beziehung entstehen. Es drohen eine komplette Projektabwicklung und Gerichtsverfahren, obwohl beide Seiten sich darüber im Klaren sind, dass speziell im Projektgeschäft Gerichte so gut wie nie eindeutig für die eine oder andere Partei entscheiden können. Das Ergebnis ist dann im optimalen Fall, dass der bisherige Projektverlauf nicht mehr aufgearbeitet, bisher Geleistetes bezahlt und gemeinsam ein „Neuanfang“ für den restlichen Projektverlauf beschlossen wird.
Phase 4: Annäherung – wenn der Lieferant das Projekt richtig gemanagt hat, wird nun einvernehmlich ein höherer Preis und/oder ein reduzierter oder weniger aufwendiger Lieferumfang vereinbart. Agiert er in dieser Phase korrekt, wird damit ein Grundstein für Folgeprojekte gelegt.
Phase 5: Beschwichtigung – gemäß der veränderten Konditionen wird nun das Projekt fertiggestellt und ausgeliefert. Am Ende wird deutlich mehr bezahlt und/oder weniger geliefert als ursprünglich angedacht, und doch sind alle Beteiligten glücklich und überzeugt, gemeinsam das „Unmögliche“ geschafft zu haben. Nun wird gemeinsam gefeiert und alle Wunden sind geheilt. Der Lieferant kann sich nun sicher sein, bei der nächsten Ausschreibung (z. B. bei der nächsten, umfangreicheren Version des gelieferten Systems) zumindest indirekt bevorzugt zu werden.
Erscheint dieser Ablauf nun zynisch? Vielleicht. Aber so ist nun mal das Projektleben; wer das nicht mag, der ist im falschen Geschäft.
Diesen einfachen und wirksamen Prozess lernt man weder an der Uni noch aus einem Buch über das Projektmanagement; ihn lehrt nur das Leben. Seine Kenntnis würde allen Beteiligten helfen, bodenständig zu bleiben und rationalere Entscheidungen zu treffen, und doch ist der Projektdienstleister oft der Einzige, der ihn versteht. Das ist sehr schade, denn es geht auch anders. Wenn sich die Projektbeteiligten alle darüber einig sind, dass Ehrlichkeit am Ende günstiger wird als der oben geschilderte „realistische Prozess“, entsteht eine ganz andere Projektkultur. Es gibt im Projektgeschäft solche erfreuliche Ausnahmen. Ich habe Projekte erlebt, die ehrlich angeboten und dann auch erfolgreich abgeschlossen wurden. Nichts ist schöner als das. Ich wünschte, dass stattdessen das Gegenteil eine Ausnahme darstellen würde, aber bis dahin wird noch sehr viel Zeit vergehen.
Genau das ist die Realität und keine andere. Projekthandbücher gehören in die Galerie. Sind da dann ganz hübsch anzusehen. Müssen dann nur ab und zu mit den Grünpflanzen entstaubt werden. 😉